Queerokratia

Am 12.4.2024 wurde das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz im Deutschen Bundestag beschlossen, um das verfassungswidrige Transsexuellengesetz (TSG) abzulösen. Damit trat die Bundesdeutsche TIN* Politik in die Post-TSG Ära. Seit 1.11.2024 ist das Gesetz in Kraft. Schon im Januar 2024, als noch nicht klar war, ob das Gesetz überhaupt durchkommen würde, entschlossen wir, eine groß angelegte queer- und TIN* Politische Strategiekonferenz zu veranstalten, um uns zu vernetzen und gegebenenfalls nächste Schritte zu planen. 

Queerokratia war eine politisch-ästhetische Konferenz, die vom 30. Mai bis zum 2. Juni 2024 in Berlin stattfand. Gefördert wurde diese Arbeit durch den Hauptstadtkuturfonds. Die Konferenz zielte darauf ab, Aktivist*innen, Politiker*innen und Künstler*innen zusammenzubringen, um zu erörtern, wie progressive queere Politik heute aussehen kann. Eingeladen waren über 100 Aktivist*innen und Aktive in NGOs, sowie Künstler*innen und einige wenige Privatpersonen. Es handelte sich um eine Konferenz der Multiplikator*innen unter einer gemeinsamen Frage: Was ist TIN* Politik in der Post-TSG Ära? 

Dabei wollten wir nicht nur inhaltlich arbeiten, sondern auch einen Raum jenseits normierender Repräsentationsästhetiken anbieten. Denn die Art wie wir Politik machen schreibt sich unmittelbar in die Art ein, was für eine Politik wir machen. Wenn wir uns an großen Tischen gegenübersitzen sprechen wir anders miteinander, als wenn wir Händchen haltend im Park spazieren oder im Club miteinander Substanzen konsumieren. Queere Politik darf nicht nur Politik von und für Queers sein – sie muss auch formal das politische Miteinander transformieren. Es braucht: 

Andrea Illés, „Feel Love 1”, digitaler Print, 2022.

Eine Neue Ästhetik der Aushandlung

Teil davon war beispielsweise die Generierung der Inhalte und der Struktur der Konferenz. Zunächst sammelten wir Themenvorschläge, darunter “Selbstschutz im Auge des Faschismus”, “Unterstützung von juristischen Prozessen”, “Digitalisierung”, “Abstammungsrecht” usw. Diese Themen versuchten wir zu bündeln und in 36 Slots unterzubringen, die wir jeweils mit einer kurzen Problembeschreibung und einer Zielvorstellung austatteten. Es gab weder Inputs noch Moderation. Alle Teilnehmenden waren selbst motivierte Expert*innen und bedurften daher keiner oder nur wenig Anleitung. Das Konzept ging auf: Anstatt einander mit vorgestanzten Positionen als Autoritäten zu addressieren, kam es auf der Konferenz mehrfach zu genuinem Austausch und kreativem Miteinander.

Konzeptuell erforschten wir deshalb mit der Konferenz die Hospitalität, Gastlichkeit von Raumkonzepten und Bühnenbildern. Warum Hospitalität? Die Welt in der wir leben ist zum großen Teil durch Privateigentum und Verträge strukturiert. Menschen begegnen einander mit Vorstellungen darüber, was zu tun ist (Vertrag). Menschen tauschen damit angeblich ihre “Meinungen” aus, wie sie gebrauchte Kleidung oder Konsumgüter austauschen. Hospitalität, Gastlichkeit setzt beidem etwas entgegen: Wie Privateigentum geht es auch in Hospitalität um Besitz – allerdings nicht auf eine ausschließende Weise, sondern im Sinne des Miteinander-Teilens. Und wie Vertraglichkeit geht es auch in Hospitalität um soziale Organisation und Regeln – allerdings wiederum nicht bestimmend und ausschließend, sondern im Sinne der gemeinsamen Aushandlung. Hospitalität hält daher Resourcen bereit für die zentralen Fragen unserer Zeit: Ökonomie und soziale Organisation, Besitz und Miteinander. 

Wir wollten aber nicht bei der Diskussionsstruktur als Ort der neuen Ästhetik der Aushandlung stehen bleiben. Die Konferenz trat mit dem Anspruch an, politische und kreative Intimität möglichst nah aneinander heranzuführen. Queerokratia präsentierte sich deshalb als ein Ort, der Ästhetik und Aktivismus vereint. Die Konferenz war eine kuschelige Kampfansage, die auf Zärtlichkeit und Zusammenhalt statt auf Konfrontation setzte. 

Hospitable Räume

Wir wollten herausfinden, in wie fern, die Gestaltung von Räumen das Miteinander, der sich darin aufhaltenden Gäste verändert. Hierfür gestaltete Fadi Aljabour drei Räume: “Pre-Construction”, “Schlafzimmer” und “Conference Haus”. 

Der „Pre-Construction“-Raum war in Dunkelheit gehüllt und enthielt eine interaktive Installation mit 20 großen Fellskulpturen unterschiedlicher Größe, die durch Färbung und Veränderung der Felltextur individuell gestaltet waren. Sie waren mit Materialien wie transparentem Nylon verwoben, wie es zum Schutz von Wänden bei Malereiarbeiten verwendet wird. Die Mischung aus taktilen und rohen Elementen schuf eine dramatische, theatrale Atmosphäre, die auf ein Gefühl von stacheliger Gastfreundschaft abzielte. Der Raum war intimen Gesprächen über Themen wie Selbstverteidigung, Ost-West-Beziehungen und Fundraising gewidmet.

Das „Schlafzimmer“ war mit drei Doppelbetten ausgestattet, die einen großen Schminktisch umgaben. Der Raum hatte eine persönliche, intime Atmosphäre und war mit persönlichen Gegenständen wie Make-up und Kleidung der Dialogführer gefüllt. Dieser Rahmen förderte Diskussionen über generelle politische Strategien, die dank der räumlichen Nähe zwischen den Teilnehmern sowohl offen als auch privat blieben.

Das „Conference Haus“ war mit Ausdrucken des Selbstbestimmungsgesetzes der deutschen Bundesregierung auf 7,800 Seiten gefüllt, wodurch ein Gefühl von Chaos und Mobilitätsstörung entstand. Außerdem enthielt der Raum einen großen Tisch, dessen Tischdecke das selbstbeschriebene Gesetz von “Selbstbestimmung Selbst Gemacht” (SBSG) zierte. Ansonsten wurde der Raum in seinem ursprünglichen Zustand belassen, mit allen Details aus der Zeit vor der Konferenz. Er diente auch als Betriebsküche. Diese künstlerische Installation war zusammen mit einer Audiodokumentation des Selbstbestimmungsgesetzes auch im Herbst 2024 im Queer Museum in Wien, Österreich, zu sehen.

Fadi Aljabour – Queerokratia Installation © Claudia Venturini, 2024.

Aljabours Installationen transformierte den klassischen politischen Prozess erheblich. Die interne Struktur der Konferenz war durchweg von ihrer Materialität bestimmt. In Umkehrung des Bauhaus Credos galt hier also: “Function Follows Form!” 

Zunächst gab die Raumgestaltung die Anzahl an Diskussionsrunden vor: Es konnte an neun Orten gleichzeitig je vormittags und nachmittags gesprochen werden. An den zwei hauptsächlichen Konferenztagen ergab das eine Gesamtanzahl von 36 Diskussionsrunden. 

Weiterhin wurde die traditionelle Sitzordnung am Tisch, bei der die Positionen ausgetauscht werden, weitestgehend verunmöglicht. Deshalb wurde die Konferenz in einem „Bowling“-System organisiert (wobei jede kollektive Unterhaltung eine “Bowl” darstellt). In diesem System fanden die Diskussionen in ausgewiesenen Bereichen (wie Betten oder großen Pelzinseln) statt, während die Teilnehmenden, die nicht am Gespräch teilnahmen, um diese herum saßen. Auf diese Weise wurde die räumliche Gestaltung auf eine nicht-hierarchische, kollaborative Weise konstitutives Element der Konferenzorganisation. Anstatt die Autorität der Redenden zu verstärken, lud der Raum dazu ein, sich nach Belieben in die Diskussion einzubringen oder sich zurückzuziehen. Diese einzigartige räumliche Gestaltung machte die Debatten flüssig und freundlich und verwandelte Zuschauende in aktive Teilnehmende sowohl der Konferenz als auch der Installation.

Hospitable Stimmung 

Der Ton macht die Musik. Aber jemand muss ihn spielen. Der Raum erzeugt eine Stimmung. Aber die muss auch bedient werden. Um die Installationen in die entsprechende, hospitable Richtung zu navigieren, wählten wir zwei Wege: Einen Serviervorschlag zum hospitablen Verhalten und ein paar Gastgeber*innen, die den ersten Schritt in Richtung Gastlichkeit gehen würden. 

Ein Serviervorschlag ist weder eine Vorschrift, noch eine Empfehlung, noch eine Regel. Er ist vielmehr eine Art Primer, eine Möglichkeit, die umgesetzt werden kann, aber nicht muss. Oft ist der Serviervorschlag auch nicht umsetzbar, wenn zum Beispiel die Packung von Frühstückscerealien mit Eichhörnchen wirbt. Unser Serviervorschlag befasste sich mit gastlichem Verhalten zueinander. Er war aus einem mehrtägigen Workshop zum gastlichen Verhalten und TIN* Politik entstanden. Daraus entstand ein kurzes Papier, das am Anfang der Konferenz kurz vorgestellt und verteilt wurde. Das sah so aus: 

[image of host sheet – coming soon]


Außerdem hatten sich bereits im April und Mai ein paar Menschen zusammengefunden, um sich sowohl inhaltlich als auch formal auf die Konferenz vorzubereiten. Diese Menschen fungierten auf der Konferenz als Gastgeber*innen, manche davon offiziell, einige auch inoffiziell. Unsere Idee war, dass diese Gastgeber*innen innerhalb der Debatten dafür sorgen könnten, dass alle nett zueinander sind, dass die Zaghaften sich ermutigt fühlen, die Lauten sich ein bischen zurückhalten, dass es von jeder Runde ein Protokoll gäbe, dass auch mal gelächelt wird, dass auch simple Fragen gestellt werden können etc. Außerdem könnten die Gastgeber*innen die spezielle Ausstattung normalisieren und dazu anhalten, die Bowls zu benutzen ohne in eine einfache Plenumsrunde zurückzufallen. Allerdings wollten wir diese Aktivitäten nicht per Dekret oder mit Autorität durchsetzen. Vielmehr sollten die Gastgeber*innen beispielhaft vorangehen, um eine möglichst autoriätsfreie Atmosphäre zu gewährleisten – eine Atmosphäre die einlädt anstatt zu bestimmen. 

Ballhaus 

Ankunft und Abschied sind zentrale Bausteine einer hospitablen Gemeinschaft. Dementsprechend widmeten wir beidem je einen ganzen Tag, der jeweils im Ballhaus Ost in Berlin Prenzlauer Berg stattfand. Die Auftaktveranstaltung begann, nach einer kurzen Begrüßung, damit, dass wir einiges benannten, worüber wir vielleicht sprechen wollen würden, was aber entweder nicht so viel Raum einnehmen könnte oder aber wovon zu sprechen wir Angst hatten. Wir nannten das “The Elephant in the room”. Tatsächlich hatte es beispielsweise durch das erhöhte Arbeitsaufkommen nach der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes eine kleine Burn Out Epidemie in der trans-politischen Szene gegeben. Deshalb sprachen wir im Chor: “Die Depression ist mit uns hier. Aber wir lassen uns davon nicht fertigmachen!” Danach wurden per Losverfahren Teilnehmende dazu aufgefordert, ebenfalls etwas Unsagbares zu benennen – oder alternativ ein Tiergeräusch zu machen. Diese Praxis band schon am Anfang der Veranstaltung die Teilnehmenden aktiv mit ein. 

Gefolgt wurde diese erste Runde von einer ersten Bowl, eingeleitet durch einige programmatische Statements aus trans Akivismus, Medizin, Jura und anarchistischem Aktivismus. Daraufhin konnte wer wollte vor den versammelten etwa 100 Gästen Platz nehmen, um zum derzeitigen Stand der TIN* Politik in Deutschland und der Welt zu sprechen. Das Ergebnis war eine umfangreiche Momentaufnahme, die sich von Regierungsnähe bis revolutionärer Rhetorik erstreckte. 

Im dritten Teil der Eröffnungsveranstaltung versuchten wir einander anhand dreier polemischer Fragen besser kennenzulernen. Die Auftaktveranstaltung war ein voller Erfolg, indem sie Teilnehmende auflockerte und miteinander bekannt machte. Sie legte den Grundstein für die folgenden Tage. 


Am letzten Tag fanden wir uns wieder im Ballhaus ein. Dort war auf der Bühne eine lange Tafel für etwa 15 Menschen gedeckt, jeweils mit einem weißen Teller und einer Möhre. Was wäre das optimale Ergebnis einer Strategiekonferenz zur TIN* Politik? Es wäre schön, wenn unsere politischen Vertreter*innen uns zuhören könnten. Auf der Bühne saß deshalb, maskiert, Olaf Scholz. Er trug eine kleine Rede vor, in der er unter anderem die Euphorie zur Staatsräson erklärte. Die ganze Ballhauserklärung findet sich hier [link]. Gefolgt wurde diese Rede von einem Bericht über die Queerokratia durch die Chefin des Kanzler*innen-Amtes. Daraufhin waren alle Anwesenden aufgefordert, sich ebenfalls an die gedeckte Tafel zu setzen, eine Möhre zu essen und unserem Bundeskanzler ihre Sorgen und Vorschläge vorzutragen. Olaf sagte zu allem ja. Obwohl zunächst zögerlich, setzten sich bald mehr und mehr Teilnehmende zu Olaf an den Tisch um ihm, mal freundlich, mal wütend, zu sagen, was sie von ihm und von der TIN* Politik halten. Nach etwa 45 Minuten kam es dann zur Revolte: Niemand wollte mehr mit den gewählten Vertreter*innen reden. Olaf wurde gebeten, die Bühne zu verlassen – und tat das umgehend. Daraufhin re-arrangierten die Teilnehmenden die Bühnenstruktur neu. Plötzlich fanden sich die meisten Anwesenden auf der Bühne wieder und alle sprachen darüber, was jetzt so als nächstes für sie politisch anstünde, gefolgt von einer kurzen feedback Runde in Bezug auf die Konferenz. Aus unserer Perspektive war dieser take over ein voller Erfolg. Denn Queerokratie ist die kollektive Selbstbestimmung, entgegen der individuellen Selbstbestimmung, die die Bundesregierung in ihrem Gesetz vorschlägt. Und ein kollektives Aufbegehren, dass den Kanzler von der Bühne bittet, um dort selbst Platz zu nehmen, ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Die Geschlechter denen die drin wohnen!

Queerokratie für alle!
Und zwar umsonst! 

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